„Die Welle“, das ist die Geschichte hinter jenem Unterrichtsexperiment, das der junge und experimentierfreudige Lehrer Ron Jones im April 1967 in einer „World-History-Class“ an der Cubberly-High-School in PaloAlto in Californien durchführte.
Seit er darüber 1976 in einem Aufsatz berichtete wurde es zur Grundlage zweier Spielfilme 1981 und 2008, eines Buches zum Film von 1981, zudem entstanden zahlreiche Dokumentationen wie beispielsweise 2011 „Lesson Plan“ und 2019 „The Invisible Line“, lose aufgegriffen wurde die Idee zuletzt 2019 zur Grundlage einer Serie.
Vielfach wurde „Die Welle“ in Schulen thematisiert, Schüler:innen setzten sich mit dem Buch und den Filmen auseinander und diskutierten, ob sie selbst jemals so dumm hätten sein können, den plumpen Mechanismen totalitärer Systeme zu verfallen.
Eben jener Grundgedanke, den Ron Jones bereits 1967 seinen Schüler:innen sehr eindrucksvoll vermittelte – mit welchen perfiden Methoden es schnell und einfach gelingen kann, Menschen derart zu manipulieren, dass Sie ihre Individualität aufgeben um zu Spitzeln und „guten Nazis“ zu werden ist es, den unsere Kinder und Schüler:innen zu Lehren wir heute mit Blick auf die erstarkenden Parteien und Gruppierungen am rechten Rand der Gesellschaft, mehr denn je verpflichtet sind.
Aus dem Blickwinkel heraus, wie Einflüsse von Befehlsgehorsam und Gruppenzwang auf das Verhalten des Einzelnen in Gruppen wirken, nähere ich mich im Fach Pädagogik alljährlich mit Schüler:innen im Jahrgang 11 dem Phänomen „Die Welle“. Dabei stieß ich bereits 2015 auf die Internetseite von Mark „TheWaveGuy“ Hancock aus Seattle, der damals grad in den Planungen für eine Rundreise durch Europa stand, auf der er an zahlreichen Stationen über seine Erfahrungen als Schüler der „World-History-Class“ von Ron Jones berichten wollte. Der Aufforderung auf seiner Seite ihn bei Interesse einzuladen folgte sein erster Besuch am Gymnasium Marianum in Meppen im Juli 2015.
Im zweiten Corona-Frühjahr 2021 lud ich Mark wieder ein, diesmal aber der Pandemie geschuldet im Rahmen des Distanzunterrichtes in eine gemeinsame Videokonferenz mit insgesamt über 60 Schüler:innen und zahlreichen Kolleg:innen, die wir wegen des Zeitunterschiedes zur US-Westküste in den Abendstunden durchführten.
Wenngleich alle sich insbesondere nach dem inzwischen monatelangen Lockdown nach realer Begegnung sehnen, wird doch in dieser Situation besonders deutlich, welche Chancen die Videokonferenz bietet, wenn es darum geht, externe Experten im Rahmen realer Begegnung in den eigenen Unterricht zu holen. Grundsätzlich egal, ob ich Mark aus Seattle, einen Chemiker aus München, den Entwicklungshelfer aus Ghana oder den Farmer aus Australien befragen möchte, stärkere Authentizität als die jeweilige Person in ihrer eigenen privaten oder auch öffentlichen Umgebung virtuell zu besuchen und live befragen zu können lässt sich meines Erachtens weder mit einer noch so gut gemachten Doku, noch mit dem Besuch der Person im Unterricht erreichen – insbesondere, wenn hier noch Aspekte der Nachhaltigkeit berücksichtigt werden, ob etwa Mark aus Seattle per Flugzeug anreist, oder per Videokonferenz!
Im Pädagogikunterricht beschäftigen wir beim Thema „Der Einzelne in der Gruppe“ zunächst mit Fragen des gruppenkonformen Verhaltens und des Befehlsgehorsams, die wir am Beispiel der bekannten Experimente von Asch und Milgram erarbeiten. Im Anschluß erfolgt eine intensivere Auseinandersetzung mit der „Welle“, in der beide Verhaltensmuster wiederzufinden sind.
Ich lasse die Schüler:innen zunächst den Film von 1981 ansehen (Ich besitze noch eine originale VHS-Cassette :-)), der inhaltlich näher an die realen Geschehnisse von 1967 herankommt, als es der deutschen Verfilmung von 2008 mit Jochen Vogel gelingt, die noch stärker dramatisierend am Ende Charaktere in den Suizid entlässt. Ganz pragmatisch passt der Film von 1981 zudem mit einer Länge von knapp 45Minuten gut ins (Präsenz-)schulische Stundenraster, zahlreich vorhandenes Material zu Film und Roman von Morton Rhue unterstützt bei der inhaltlichen Aufarbeitung, wobei es auch Material für den Film von 2008 gibt.
So waren meine Schüler:innen aufgefordert, sich in Gruppen konkreter mit einzelnen (fiktiven) Schüler:innen-Charakteren des Films auseinanderzusetzen. Dass diese Charaktere für den Spannungsbogen sorgend, von Hollywood frei erfunden wurden war eine der überraschenden Kenntnisse, mit denen Mark Hancock beim Q&A die Schüler:innen zu beeindrucken wusste. Aufgrund der Tatsache dass die Videokonferenz in Englisch erfolgte haben wir übrigens in der letzten Unterrichtsstunde vor der internationalen Videokonferenz offene Fragen gemeinsam gesammelt und übersetzt notiert.
Dem charismatischen Lehrer Ron Jones näherten wir uns in diesem Jahr erstmalig über die sehr authentische Dokumentation „The Invisible Line“. Ron Jones eröffnet die Dokumentation mit der Einleitung seines ersten Aufsatzes von 1976, „[…] jahrelang habe ich ein schreckliches Geheimnis gehütet – ich habe dieses Geheimnis mit 200 Schülern geteilt!“ Die Diskussion über die Bedeutung dieser Aussage bringt uns mitten hinein in die Dimension, die das von ihm damals lediglich für eine Unterrichtsstunde geplante Experiment erreicht. Es dauerte in der Realität 5 Tage an, an deren Ende Ron Jones das Experiment, dem sich bald 200 Schüler:innen angeschlossen hatten, mit der deutlichen Lektion beendet, dass seine Schüler alle „Gute Nazis“ geworden wären. Entgegen den Ereignissen in den Filmen stellte er das Experiment am 5. Tag übrigens nach Aussage von Mark Hancock vorrangig auf das Betreiben seiner Frau hin ein, die sich in „The Invisible Line“ erstmalig öffentlich zu dem Experiment ihres Mannes äußert. Weitere Hintergründe zur Doku liefert ein Gespräch zwischen Mark Hancock und dem Regisseur Emanuel Rotstein.
Die Option nun zum Abschluss der Unterrichtsreihe die originalen Geschehnisse von 1967 von einem Zeitzeugen auch in den damaligen zeithistorischen Kontext einsortiert zu bekommen ist ein einmalige Chance! Es war die Zeit des Vietnamkrieges, junge US-Schüler durften zwar noch nicht wählen, wohl aber von der Regierung zu einem Kriegseinsatz in Vietnam zwangsverpflichtet werden!
Das große Potential der Videokonferenz besteht nun in meinen Augen darin, dass der Redner realen Eintritt in die Lebenswirklichkeit der Schüler:innen erhält. Diese sitzen nicht tuschelnd in den hinteren Reihen einer Aula, sondern während einer Videokonferenz ist der Redner in ihrem persönlichen und privaten Umfeld zu Gast, was zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit seinen Aussagen führen kann und was unsere Schüler:innen – wie an den zahlreichen Fragen erkennbar wurde – auch für sich zu nutzen wussten!
Mark Hancock bedankte sich am Ende der Konferenz, nachdem er zum Abschluss ein flammendes Plädoyer für mehr Demokratie und Zivilcourage gehalten hatte, denn auch mit dem Hinweis an alle Teilnehmer, „You are my favourite school in Germany, to talk about the experiment ‚Third Wave‘„!
Ich durfte die Videokonferenz live miterleben; es war sehr spannend und hochinteressant dieses Experiment durch die Augen von Mark sehen zu dürfen!